Auch Deutschland ist ein 3.-Welt-Land – zumindest im Bereich der Inklusion
Deutschland gehört zweifellos zu den führenden Industrienationen dieser Welt. Gesetze und Verordnungen, Normen und Regeln sorgen dafür, dass quasi alles in diesem Land genau geregelt ist und dass wir uns bei dem, was für tun, sicher fühlen können. Natürlich schließt dies nicht die natürlichen „Risiken des Lebens“ aus – aber grundsätzlich hat alles qualitativ einen der höchsten Standards und, dort wo High-Tech“ möglich ist, wird es auch verwendet.
Schauen wir uns einmal – im Vergleich – dazu das Land Brasilien an. Brasilien gehört zwar schon lange nicht mehr zu den so genannten 3.-Welt-Ländern, schließlich ist z. B. Sao Paulo eines der größten deutschen Industriestandorte außerhalb von Deutschland, aber es gibt dort immer noch sehr viele Kuriositäten über die wir aus Deutscher Sicht nur den Kopf schütteln.
So werden dort beispielsweise immer noch die Stromleitungen über Land gezogen, am Masten einfach mehr-oder-weniger verknotet und von Haus zu Haus gezogen. Wenn so etwas die Innung des Deutschen Elektrohandwerks sehen würde, sie würde wahrscheinlich einen gan-zen Straßenzug schließen – wenn sie könnte. In Sao Paulo spielt es keine Rolle und, wenn einmal
etwas defekt ist, dann kommt ein Monteur, legt eine Leiter an den Masten an und repariert es. Eines von vielen „interessanten“ Beispielen. Nun kann man natürlich über so eine Installation denken wie man will. Tatsache ist, es funktioniert und – es stört niemanden.
Ganz anders sieht es hier schon im Bereich der Barrierefreiheit, der Orientierungs-sicherheit, oder, wie wir heute so schön in Deutschland sagen, der „Inklusion“ aus. In diesem Bereich kann Deutschland sehr viel von Brasilien lernen und sich mehr als nur eine „Scheibe abschneiden“.
In Sao Paulo leben, registriert, circa 17,5 Mil. – nicht registriert
zwischen 22 und 25 Mil. Menschen auf engstem Raum. Es ist aber
vollkommen egal, ob man sich in einem Armenviertel, einer Favela, oder im Bankenviertel der Hochfinanz befindet, et-was ist immer gleich, es befinden sich überall Leitsysteme für Blinde und Rampen für Rollstuhlfahrer. Barrierefreiheit und Orientierungssicherheit sind dort keine besonders nette Aufmerksamkeiten für bedürftige Menschen, sie gehören einfach da-zu.
Der Bürgersteig kann an bestimmten Stellen noch so schlecht sein, mit großen Lö-chern oder sehr eng zur Straße hin, ein Blindenleitsystem ist immer vorhanden. An wirklich jeder Bushaltestelle findet man so ein System, genauso wie abgesenkte Bordsteine für Rollstuhlfahrer.
Besucht man beispielsweise ein Shopingcenter (Mall) befindet sich in der Regel auf der Rückseite ein separater Parkplatz für behinderte, ältere oder schwangere Besucher. Geht man von dort aus weiter Richtung Eingang, dann ist dort eine „Verleihstation“ für eScooter, Rollstühle und Rollatoren zu finden. Hier kann man sich – gebührenfrei – als Gehbehinderter oder älterer Menschen ein solches Fahrzeuge bzw. einen Rollstuhl für die Zeit des Einkaufs ausleihen. Im Shoppingcenter selber ist überall ein
Blindenleitsystem integriert, sowie gute Markierungen für Sehbehinderte. Alle Geschäfte sind mit eScooter, Rollstühlen oder Kinderwagen gut zugänglich.
Dies gilt natürlich auch für die WC-Anlagen. Abgesehen davon, dass hier alle WC-Anlage selbstverständlich kostenlos sind, gibt es hier ebenfalls selbstverständlich überall separate, sehr gut zugängliche, Bereiche für Rollstuhlfahrer, Wickelräume für die Babys und die Markierungen dorthin sind für Blinde und Sehbehinderte hervorragend gekennzeichnet.
Überall dort, wo es öffentliche Telefone gibt, sind immer auch tiefer angebrachte Telefone für Rollstuhlfahrer angebracht – ja, selbst Hörbehinderte und Gehörlose können hier über ein Modem problemlos telefonieren.
Wenn man sich dies alles aufmerksam anschaut, dann verwundert es einen auch nicht mehr, dass es beispielsweise in einem ganz normalen Baumarkt separate Kassen für Behindert, Ältere und Schwangere gibt. Diese Kassenbereiche sind besonders groß ausgestattet, es gibt Sitzgelegenheiten, falls es einmal etwas dauern sollte, und natürlich Personal, was immer hilfreich beim ein- und auspacken zur Hand geht.
Mit unserer Deutschen – zum Teil sehr überheblichen – Sicht der Dinge, wo wir ja immer über allen Zweifeln erhaben sind und immer alles können und wissen kann man natürlich an dieser Stelle sehr schnell sagen: „naja – für die allgemeine Bevölkerung mag das ja ganz nett sein, aber für die Oberklasse spielt das alles keine Rolle. Die haben so etwas schließlich nicht nötig den sie haben ihre Mittel und Helfer!“ Dies mag in Deutschland sicher so sein – nicht aber in Brasilien.
Besucht man zum Beispiel als Gast ein Hotel der Oberklasse, dann gehört auch dies alles ganz normal dazu. Dann natürlich mit etwas mehr Chic, Eleganz und Stil aber, das Prinzip ist immer das gleiche. Auch hier findet man im Eingangsbereich eine Rampe für Rollstuhlfahrer, Markierungen für Sehbehinderte, ein Leitsystem für Blinde und natürlich überall separate Telefone für Rollstuhlfahrer, behinderten gerechte Toiletten und vieles
mehr, was uns Deutsche einfach nur stauen lässt und wir dankbar sein können, wenn es etwas vergleichbares überhaupt gibt.
Wenn man sich diese Situation gesamt einmal anschaut, dann verwundert es einen auch nicht mehr, dass man in Parkanlagen und freien Plätzen in der Stadt, beispielsweise vor einer U-/S-Bahnstation überall ganz einfache Fitness-Geräte vorfindet. Das sind Geräte ohne Gewichte – nichts kompliziert, sie dienen lediglich dazu, sich zu bewegen. Diese Geräte werden von den Kommunen aufgestellt und dienen dazu, dass sich auch
Menschen, die wenig oder kein Geld haben, sich fit halten können ohne Fitness-Studios mit einem 24monats-Abo zu besuch. Und, man glaubt es kaum, diese Geräte werden auch genau für diesen Zweck genutzt. Ältere Menschen treffen sich zu einer bestimmten Uhrzeit im Park und machen ihre Übungen – wundervoll … !
Spricht man in Brasilien einen Verantwortlichen auf diese Thema an, also einen:
Fachplaner, Architekten, eine Wohnungsbaugesellschaft oder einen Städteplaner, dann wissen diese überhaupt nicht, worüber man eigentlich redet. Für sie gehören diese Menschen einfach dazu – Punkt. Das Stichwort „Barrierefeiheit“ gibt dort so gar nicht. Bodengleichheit, Markierungen und vieles mehr wird von vorn herein genauso mit eingeplant, wie ein Wasserhahn oder ein Toilettensitz.
In Deutschland dagegen wird weiterhin für den physisch und psychisch fitten und gesunden 20 bis 60 jährigen Menschen geplant und gebaut. Alles was sich nicht hier einordnen lässt, also: Kinder und Alte, Menschen mit einer motorischen oder sensorischen Einschränkung, Schwangere oder junge Familien bedürfen im Nachhinein erst einmal einer gesonderten Planung und Beurteilung der Kostenlage. Wenn keine zwingende Notwendigkeit vorliegt oder es außerhalb des – vorher
festgelegten – Budgets liegt, dann wird es erst gar nicht gemacht und, man kann ja im Nachhinein dann immer noch mal schauen, ob man die baulichen Gegebenheiten anpasst.
Von daher sind wir in Deutschland immer noch sehr weit hinten – eben ein inklusives Dritte-Welt-Land.