Der n-tv-Artikel vom 21.05.2018 ist einerseits zwar beeindruckend aber nicht wirklich überraschend. Es ist in Deutschland, wie mit den Kindern; man sieht sie zwar gerne, aber – man möchte sie nicht hören. Demnach kann man zwar der Fraktion der Linken dankbar sein, dass sie sich überhaupt einmal dem Thema angenommen hat. Nur wird sich auch dadurch nichts ändern.

 

Wenn die Zahlen stimmen, dann sind von den rund 100.000 Arztpraxen in Deutschland circa 35.000 nicht barrierefrei erreichbar. Das ist schlimm …! Und, wie so oft endet die Diskussion wieder mit dem Ergebnis, die Kosten für einen Umbau sind zu hoch und dem einzelnen Arzt nicht zumutbar. Mag sein! Aus diesem Grund hat die KBV (Kassenärztliche Bundesver-einigung) auch sofort eine Lösung, in dem sie anregt, dass die Staatsbank KfW und andere Förderbanken mit entsprechenden Programmen derartige Investitionen unterstützen soll. Guter Ansatz – nur, wie lange soll das dauern? Bis dahin sind die Praxen, die wir uns heute anschauen, längst wieder geschlossen.

 

Wir sollten einfach einmal anfangen und die Diskussion in eine etwas andere Richtung lenken und – einfach nur ehrlich sein. Ein hoch industrialisiertes Land, wie Deutschland, ist ein- und ausgerichtet für Menschen in einem Alter von … bis … und mit einer bestimmten körperlich und geistigen Konstitution. Alle anderen Menschen, die nicht in dieses Raster passen, haben letztlich nichts in diesem System zu suchen – sie stören nur, sie kosten halt. Es ist zwar chic und gesellschaftlich „on vogue“ über diese Themen zu sprechen und sich in Teilen hier zu engagiere. Nur letztlich kann sich gar nichts ändern. Warum? Weil diese Menschen auf ihren Kosten-Nutzen-Faktor reduziert werden. Das kann demnach nicht funktionieren.

 

In einem früheren Artikel hatte ich darüber berichtet, dass mich vor zwei Jahren (2016) in Sao Paulo (Brasilien) aufgehalten habe und was mir dort aufgefallen war. Nun wissen wir, dass es in Brasilien viele Dinge gibt, die man durchaus kritisch betrachten kann. Nur eines ist hier, wie in vielen anderen Ländern auf dieser Welt, „ganz normal“: Schwangere, Babys, Kinder, Behinderte, kognitiv Eingeschränkte und alte Menschen gehören einfach dazu.

 

Das ist das Leben. Nicht „nur“ Menschen zwischen 25 und 48 Jahre, gut ausgebildet, körperlich und geistig fit, in erster Ehe und zwei Kindern, mit Reihenhaus und Mittelklassewagen.

 

Was ist gravierend anders in Sao Paulo. Kinder, die eine bestimmte Größe nicht überschritten haben, sowie Menschen ab einem bestimmten Alter steigen in den Bus und fahren ohne Fahrschein mit. Auf den Straßen kann man oft zwar kaum laufen, weil sie so schlecht sind, aber – ein Leitsystem haben sie alle. Geht man in eine Mall (großes Kaufhaus) gibt es auf der Rückseite einen großen Parkplatz nur für behinderte Menschen. Rollstühle und Rollatoren stehen dutzendweise zur Verfügung, die man kostenfrei mieten kann. Das gesamte Kaufhaus hat natürlich große Aufzüge, ein Leitsystem, barrierefreie Zugänge in alle Geschäfte und WCs, Telefone, die für einen Rollstuhlfahrer auf Augenhöhe angebracht sind und natürlich auch Telefone für Hörgeschädigte, die den Sprachtext in Schwarzschrift übersetzen übersetzt bekommen.

 

Natürlich habe ich auch hier das Gespräch mit Ingenieurbüros, Fachplanern und Architekten gesucht und danach gefragt, wie das alles möglich ist – das muss ja irre viel Geld kosten. Die Menschen, mit denen ich sprach, wussten zum Teil gar nicht, was ich von ihnen wollte. Natürlich dachte ich zunächst, es würde an der Sprache liegen, dass ich mich nicht richtig ausgedrückt habe. Aber, dem war nicht so. Wir haben uns inhaltlich nicht verstanden, weil ich ein Thema angesprochen habe, was für diese Menschen kein Thema ist. Sie sagten mir ganz klar und deutlich: wir denken überhaupt nicht darüber nach, was für besondere Leistungen erbracht werden müssen. Schwangere, Kinder, Behinderte, Alte gehören einfach dazu – Punkt. Und weiter … wir denken ja auch nicht darüber nach, wie ein Erwachsener mit einem Kinderwagen ins Hotel, Krankenhaus, Arztpraxis, Wohnhaus oder öffentliche Verkehrsmittel kommt. Es wird eben ganz selbstverständlich dafür gesorgt, dass es geht – ohne über Kosten zu sprechen. Diese Kosten sind schlicht Teil der Baukosten, genauso, wie die Fenster und das Dach und das nicht erst seit dem Jahr 2000.

 

Die Bundesregierung und natürlich auch die KBV haben natürlich vollkommen recht. Die Deutschen und Europäischen Normen und Regeln lassen heute gar nichts mehr anderes zu, als barrierefrei zu bauen. Daran hat auch keiner einen Zweifel. Nur, solange immer wieder „Kosten“ als Argument eingebracht werden, warum bestimmte Dinge in unserem Land nicht so sind, wie sie aus rein menschlichen Gründen sein sollten, wird sich de-facto auch nichts Grundlegendes ändern und, es wird auch heute weiterhin nur das gesetzlich notwendige getan – kein Mörtelkelle mehr.

 

Über was für Kosten sprechen wir? Natürlich mag es in dem einen oder anderen Fall wünschenswert sein, wenn außen an der Fassade ein gläserner Fahrstuhl angebracht wird, deren Installation natürlich sehr teuer ist und, ich zweifle auch nicht an, dass es bauliche Situationen gibt, wo sich nachträglich kaum bzw. nur mit großem Aufwand etwas ändern lässt. In der Regel aber sprechen wir über geringe Aufwendungen für mobile Rampen für Rollstuhlfahrer (übrigens auch für Kinderwagen nutzbar), einen zusätzlichen Handlauf für Menschen mit einer Gehbehinderung, über Formulare in Großschrift und klarer Zimmerbeschilderung innerhalb der Räume und ggfs. über akustische und optische Signale. Was für Kosten sind das – innerhalb des Gesundheitswesens?

 

Was wir benötigen ist Ehrlichkeit und ein anderes Bewusstsein für ein menschliches Miteinander.

 

22.05.18 – Axel Dickschat