Wenn man heute mit Verantwortlichen aus dem Gesundheitswesen (Krankenhäuser oder Senioreneinrichtungen), den Verkehrsbetrieben, Wohnungsbaugesellschaften oder der Gastronomie über Barrierefreiheit und Orientierungssicherheit spricht, dann zucken immer alle sofort zusammen und sagen: oh je – das wird aber sicher teuer. Das dies nicht zwingend so sein muss, möchte ich an folgendem Beispiel deutlich machen.
Mir ist aufgefallen, dass ich jetzt im 37ten Jahr Bahn fahre. Das heißt, über diesen langen Zeitraum habe ich unterschiedliche Regional- und Netzkarten abonniert. Ich erwähne dies zu Beginn nicht, weil ich mich um einen Preis bewerbe, sondern um deutlich zu machen, dass ich sicher schon den einen oder anderen Bahnhof besucht habe.
Von Beginn an ist mir eines immer wieder aufgefallen, was mir bis heute nie jemand hat erklären können. Nein, ich meine nicht die üblichen Zugausfälle oder Verspätungen, die überfüllten und verschmutzten Züge – das können andere besser. Mir geht es hier um unser Thema „Inklusion“ – Barrierefreiheit und Orientierungssicherheit für motorisch und sensorisch eingeschränkte Menschen – in diesem Fall: Reisende.
Im Bereich der Barrierefreiheit hat die Deutsche Bahn in den vergangenen Jahren zweifellos sehr viel getan. Das ist unumstritten. Wer heute im Rollstuhl sitzt oder einen Gehwagen schiebt – also motorisch eingeschränkt ist, der ist mit der Bahn zwar nicht uneingeschränkt, jedoch relativ selbständig unterwegs. Dafür haben eine besonders starke Lobby und berühmte Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens gesorgt – und das ist auch gut so.
Wir sind uns aber sicher alle darüber einig, dass sensorisch eingeschränkte Menschen, also Leute mit einer Hör- und Sehbehinderung nicht alleine reisen können, nicht mobil sein können. Warum das letztlich immer noch so ist, ist in diesem Fall nicht so wichtig. Tatsache ist, ist halt so. Obwohl die Anzahl der Menschen, die sensorisch eingeschränkt sind wesentlich größer ist als die, der motorisch eingeschränkten Personen. Aber, sie (die sensorisch Eingeschränkten) fallen halt nicht auf und, beschweren tun sie sich auch in der Regel nicht – sie leben halt mit ihrer Einschränkung. Im Bereich der Mobilität geht es schon damit los, dass Fahrpläne nicht lesbar sind, Hinweise und Schilder zur Orientierung nicht erkannt werden können und Gleise nicht durchnummeriert sind.
Letzteres ist spannend.
Seitdem ich auf der Schiene unterwegs bin frage ich mich, warum die Gleise nicht nach der uns allen bekannten Arithmetik nummeriert sind. Also, ein Bahnsteig hat die Gleise 1 und 2, der nächste 3 und 4, dann 5 und 6 usw. Warum geht das nicht. In Dortmund, meinem Heimatbahnhof, gibt es keinen kleinen Kopfbahnhofsbereich mit den Gleisen 2 und 3, 4 und 5. Warum dieser Bereich nicht mit 1 anfängt, weiß ich nicht – aber, es hat zumindest eine gewisse klare Reihenfolge. Im Bahnhofsbereich wird es dann interessant. Es geht los mit 6 und 7, dann 11 und 16, dann 18 und 20, und zum Schluss 21 und 31 (Der guten Ordnung halber sei erwähnt, dass hier – 21 und 31 – derzeit eine Baustelle ist und nicht betreten werden kann.)
Noch einmal zur Erinnerung; die Anzahl der Menschen mit einer sensorischen Einschränkung ist wesentlich größer als diejenigen, mit einer motorischen Einschränkung. Hinzu kommen die älteren Menschen, die altersbedingt nicht mehr so gut sehen und hören können. Das ist – immerhin – jeder Vierte über 50, jeder Dritte über 60 und jeder Zweite über 70 Jahre. Insgesamt ist die Anzahl der betroffenen Menschen – leider – nicht bezifferbar, aber riesen groß.
Man könnte durchaus dazu neigen zu glauben, dass Mobilität mit öffentlichen Verkehrsmitteln der Gruppe von Teenagern und jungen Heranwachsenden vorbehalten ist, die motorisch und sensorisch fit sind und mit den modernen Kommunikationssystemen gut umgehen können. Für alle anderen wird es schwierig – zumindest nicht so entspannt, wie es sein sollte. Nun wird man leicht sagen können, na ja – so ist es doch nicht. Busse und Bahnen sind voll älterer und behinderter Menschen. Das ist schon richtig – nur fragt sie keiner, wie entspannt und ruhig sie reisen. Es sei denn, sie benutzen täglich den selben Bus von zu Hause in die Stadt.
Kommt nun ein Reisender der Gruppe mit einem sensorischen Handikap in einen Bahnhof ist schon einmal klar, dass diese Person selber den Fahrplan an der Wand – hinter den Glaskästen – nicht lesen kann. Die Pläne, die unter der Decke hängen, sind für ihn auch keine Hilfe. Also, diese Person kann nur zum Service-Point (Auskunftsstand – meistens in der Mitte der Eingangshalle) gehen, um sich Auskunft einzuholen. Hier hilft man ihm in der Regel ebenso freundlich wie kompetent weiter – keine Frage. Lautet die Auskunft – beispielsweise –, dass der Zug nach Köln um 11:37h von Gleis 11 abfährt, dann muss dieser Reise sich irgendwo eine weitere Person suchen, die ihn zu Gleis 11 bringt bzw. den Weg zeigt. Auf Grund einer einfachen Zählung der aufgehenden Treppen kann er es nicht feststellen und, auch die Gleisangaben hängen in der Regel so hoch, dass sie von den Betroffenen auch nicht auf die Schnelle erfasst werden können. Auch, wenn sie in der Zwischenzeit recht groß und klar geschrieben sind. Einfacher wäre es, wenn sie auf Augenhöhe angebracht wären.
Besonders aufregend wird es, wenn man z. B. auf Gleis 11 steht und auf den Zug wartet und kurz vor dem Eintreffen des Zuges kommt die Durchsage, dass das Gleis für den einfahrenden Zug wechselt und der Zug auf Gleis 21 einfährt. In so einem Fall hat man als Sehbehinderter nur zwei Möglichkeiten, entweder man geht auf Verdacht die nächste Treppe hoch oder man folgt der Masse – was in einem vollen Bahnhof auch nicht immer die beste Idee ist. Auf jeden Fall, es ist nicht ganz so einfach und ich habe bereits in mir unbekannten Bahnhöfen auf diesem Weg schon manchen Zug verpasst.
Warum das so ist, habe ich bisher noch nicht herausfinden können. Ich bin jedoch davon überzeugt, dass, wenn ich nur hartnäckig nachhaken würde, ich irgendwann einmal jemanden bei der Bahn finden würde der mir ein eineinhalbstündiges Referat darüber hält, warum das so sein muss. Nur, für diejenigen, für die es gemacht ist, also für die Reisenden, erschließt sich diese Logik nur sehr schwer.
Wie gesagt, wir sprechen hier nicht über Aufzüge oder Rolltreppen, die nachträglich aufwendig installiert werden müssen, sondern um optische und akustische Signale – mehr nicht.
Fazit: Wenn ich, wie zu Beginn beschrieben, heute mit Verantwortlichen über das Thema „Inklusion“ spreche, dann zucken immer alle sofort zusammen, weil sie denken, dass nun eine große Kostenlawine auf sie zu kommt und das stimmt eben nicht.
Anhand dieses ebenso simplen, wie praktischen Beispiels ist zu erkennen, dass die Umsetzung der Inklusion nicht immer eine Frage des Geldes, sondern vielmehr des eine Frage des guten Willens ist.